Ein Jahr Pandemie

Leider muss ich, wie so manch anderer, nach fast einem Jahr Pandemie feststellen, dass mich die von Beginn an vorhandene und stetig steigende Bereitschaft unserer Gesellschaft, Leben und Gesundheit von Menschen zu opfern, weil es „so nicht weitergehen kann“, zunehmend und in ungesunder Weise verstört. Auch wenn es für den einen oder anderen pathetisch klingt – ein wichtiger Teil meiner Sozialisierung war die Erkenntnis, dass Leben nicht verrechnet werden dürfen. Dass Leid und Leben durchaus täglich verrechnet werden, ist mir bewusst – ich bin nicht naiv. Die Dimension ist aber eine andere. Eine, die mich fragen lässt, ob wir als Gesellschaft wieder von ihr zurücktreten können, oder ob das Leben zukünftig stärker disponibel bleiben wird. Und das wiederum macht etwas mit mir. Lenkt mich von der Arbeit ab, lässt mich wütend werden und verzweifeln ob des Wissens, dass ich den Kurs der Mehrheit mittragen muss und kaum mehr tun kann, als bestmöglich darauf zu achten, nicht selbst zum Corona-Vektor zu werden. Zu wenig. Allen, die in ähnlicher Weise unter Frust und Resignation leiden, kann ich nur zum gedanklichen Ausstieg im Sinne der bewussten Sterblichkeit (momenti mori) raten. Dass die Gesellschaft diese Akzeptanz vermeidbaren Leidens durch die Kraft des Faktischen erzwingt, bleibt unendlich traurig.COVID-19 verändert uns als Gesellschaft brutal. Kalte Zahlen, Intensivstationstheorien, und dann eine eiskalte Flut von Stellungnahmen und Positionspapieren, in denen „Abwägungen“ vorgenommen werden. Kirche schweigt, Religionen schweigen zur Verschiebung des moralischen Kompass. Als Mensch stehe ich fassungslos vor dieser unvorstellbar menschenfeindlichen, spalterischen, zerstörerischen Moral, die in „TV-Shows“ und von Politikern in „Strategien“ ohne Murren und Zögern eingekleidet wird, um Schwache und Hilflose zurückzulassen. Beispiele sind Entgleisungen bei den Impfreihenfolgen („die Starken zuerst, weil sie den Schwachen helfen müssen“) oder die seit 1 Jahr fehlenden Erleichterungen im täglichen Leben, wo aber Milliardenzahlungen im Nu an die Wirtschaft erfolgen – das erträgt keine Gesellschaft. Das formt und prägt die künftige Post-COVID-Gesellschaft. Sie wird so erbarmungslos und würdelos sein wie selten eine Gesellschaft. Es ist schon makaber, dass wir nicht imstande sind, die COVID-19-Toten zu betrauern. Kein Halbmast, kein Bundespräsident, kein Trauertag, nichts! Allen sollte bewusst sein, dass einmal überschrittene Grenzen und Tabus Folgen haben. Und was mich als Linker besonders traurig stimmt… Warum hat die Linke keine Antwort darauf, dass Menschenleben in der Pandemie zunehmend disponibel gemacht werden? Warum steht DIE LINKE nicht auf und erkennt dass in der Corona-Wirklichkeit des Kapitalismus nun mal der Sozialdarwinismus vorherrschend ist. Der Unterschied zu sonst ist lediglich, dass wir in diesem Fall unmittelbar in unserem Umfeld damit konfrontiert werden, dass für unsere Freiheit und unseren Wohlstand, Menschen gefährdet und mit dem Leben bezahlen werden. Bei ZeroCovid sind Menschenleben nicht disponibel und genau das stände der Linken als Bürger- und Menschenrechtspartei gut zu Gesicht…

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